Thomasevangelium
Das Thomas-Evangelium (EvTh) gehört zu den frühchristlichen Schriften, die nicht Eingang in den "Kanon" (den Bestand) an "Heiligen Schriften" gefunden haben. EvTh war - relativ gesehen - sehr verbreitet. Bei mehreren Kirchenvätern - u.a. Hippolyt (1. Hälfte des 3. Jh.), Origenes (1. Hälfte des 3. Jh.), Eusebius (1. Hälfte des 4. Jh.) finden sich Belege für seine Existenz. Bis heute erhalten sind drei unabhängige Fragmente einer griechischen Fassung und die (vollständige) koptische Übersetzung des Thomas-Evangeliums. Die Entdeckung dieser schriftlichen Zeugnisse war schwierig. Man fand 1897 und 1904 in Ägypten (Oxyrhynchus) Papyri mit griechischen Texten, deren Herkunft man nicht genau zuordnen konnte. Die Papyrus-Reste stammten aus der Zeit um 200 n.Chr. Der Durchbruch kam 1945, als man in Oberägypten, bei Nag Hammadi, eine größere Menge koptischer Schriften fand. Die koptische Sprache ist die seit dem 3. Jh. nach Christus bezeugte Ausformung der ägyptischen Sprache. Das koptische Ägyptisch wird mit dem griechischen Alphabet und sechs aus dem demotischen Ägyptisch stammenden Buchstaben geschrieben. Unter den Schriften von Nag Hammadi fand man eine koptische Übersetzung des "Thomas-Evangeliums". Nun konnte man auch die griechischen Oxyrhynchus-Papyri zuordnen: Sie waren Reste der griechischen Vorlage für die koptische Übersetzung. Man verwendet als Grundlagentext heute den koptischen Text, da dieser Text vollständig ist.
Wann der Text des Thomas-Evangeliums entstanden ist, ist sehr umstritten. Grob ist eine Entstehungszeit von 100 nC (+/- 20 Jahre) anzusetzen. EvTh ist vermutlich im syrischen Raum anzusiedeln. Bedeutsam für Christen ist das EvTh deswegen, weil sich in ihm interessante Berührungen zu den "kanonischen" Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas sowie Johannes finden. Allerdings hat der Text einen eigenen Blickwinkel auf Jesus, den man "gnostisch" oder "frühgnostisch" nennen kann. Die Gnosis ist eine Heilslehre, die sich in der frühen Kirche nicht durchgesetzt hat (wohl aufgrund des sehr einseitigen Gottes- und Menschenbildes). Aus diesem besonderen Blickwinkel erklären sich manche schwer oder gar nicht verständliche Worte. Es sprachen also theologische Gründe gegen eine Aufnahme in den Kanon der neutestamentlichen Schriften. Von der Gattung her ist das EvTh eine Sammlung von Worten Jesu - und dies ist in etwa vergleichbar mit der sog. Logienquelle (Q), ebenfalls eine Sammlung von Sprüchen Jesu, die heute verloren ist und nur dadurch bekannt ist, dass Matthäus und Lukas unabhängig voneinander diese Spruchsammlung in ihre Evangelien integriert haben.
Für die Beziehung zu Mt, Mk und Lk (und Q) sowie Joh gibt es mehrere Möglichkeiten: (1) EvTh kannte alle Evangelien. Dann ist EvTh relativ spät entstanden und eine Kurz- oder Neufassung der Evangelien. So etwa ist die Meinung der großen Mehrheit der deutschen Bibelwissenschaftler. (2) EvTh ist wie Q ein sehr frühes Zeugnis der christlichen Überlieferung über Jesus und damit ein eigenständiger Überlieferungsstrang neben und vor den Evangelien. Dies ist die Meinung vieler amerikanischer Forscher. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen (1) und (2). Vielleicht lassen sich die Berührungen am plausibelsten durch mündliche Traditionen erklären, d.h. zwischen den frühen christlichen Gemeinden gab es Beziehungen, man tauschte sich mündlich über Jesus aus und prägte so manchen "Spruch". Irgendwann wurde es notwendig, diese Sprüche schriftlich festzuhalten, und das geschah wohl unabhängig voneinander an mehreren Orten. Aus dieser mündlichen Vorgeschichte ist zu erklären, dass im EvTh wahrscheinlich einige sehr alte Jesus-Worte, vielleicht sogar authentische Jesus-Worte, erhalten sind (z.B. EvTh 20, 54, 64, 96-98). Daneben finden sich im EvTh jedoch auch jüngere Überlieferungen, die die kanonischen Evangelien voraussetzen (z.B. EvTh 16, 63) oder eine sekundäre, gnostisierende Tendenz aufweisen (z.B. EvTh 42, 114).
Aus der Perspektive der neutestamentlichen Exegese lohnt sich die Lektüre von EvTh wohl erst dann, wenn man sich mit den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas (und auch des Johannes) sehr vertraut gemacht hat. Dann erst wird man Gemeinsamkeiten und Unterschiede fruchtbar entdecken. Auch lohnt sich die Lektüre wohl dann mehr, wenn man eine Erläuterung heranzieht.
Text:
- Ein zuverlässiger und seriöser Text des Thomas-Evangeliums ist in der Synopsis Quattuor Evangeliorum, ed. Kurt Aland, 15. Aufl., S. 517-546 zu finden. Der Text ist koptisch, deutsch und englisch abgedruckt.
- Die deutsche Übersetzung findet man auch in: J. Schröter / H.-G. Bethge, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), in: Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1-V,1. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften (Koptisch-Gnostische Schriften II; GCS NF 8 [96]), hg.v. H.-M. Schenke u.a., Berlin / New York 2001, 151-181. [Zur teilweise irreführenden Einleitung von Schröter, die die Forschungslage nur einseitig-tendenziös wiedergibt, vgl. die kritische Rezension von J.M. Robinson im Review of Biblical Literature 2002]
Weitere Literatur:
- Fieger, Michael: Das Thomasevangelium. Einleitung, Kommentar und Systematik, Münster: Aschendorff, 1991. - XIX, 296 S. (Diese Arbeit greift wesentlich auf die frühere Arbeit von Wolfgang Schrage zurück)
- Schrage, Wolfgang: Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu den koptischen Evangelienübersetzungen. Zugleich ein Beitrag zur gnostischen Synoptikerdeutung, Berlin: Töpelmann, 1964. - VIII, 213 S.
- Zöckler, Thomas: Jesu Lehren im Thomasevangelium, Leiden; Boston; Köln: Brill, 1999. - XII, 285 S.
- Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Gerd Lüdemann und Martina Janßen, Stuttgart: Radius, 1997, Rezension dazu in Theologische Literaturzeitung 124 (1999) 138-141.
- Valantasis, Richard: The Gospel of Thomas, London [u.a.]: Routledge, 1997. - XVII, 221 S.
Internetadressen:
englisch-koptische Interlinearüberstzung http://www.geocities.com/Athens/9068/