Die Logienquelle Q (von Paul Hoffmann)
1. Forschungsgeschichte
Die Ende des 18. Jh. einsetzende Diskussion über die Entstehung der synoptischen Evangelien fand in der Zwei-Quellen-Theorie eine die weitere Forschung bestimmende Lösung (Holtzmann 1863). Der Leipziger Philosoph Weiße erkannte 1838 als erster, daß Mt und Lk in den Abschnitten, in denen sie unabhängig von Mk miteinander übereinstimmen, neben Mk eine weitere Quelle verarbeiteten. Unter dem Einfluß von Papias wurde sie zunächst mit L (= Logia), seit Wernle mit Q bezeichnet. Eine erste Rekonstruktion unternahm Harnack. Wurde Q zunächst als eine die Christus-Verkündigung ergänzende paränetische Sammlung von Jesusworten angesehen, so setzte sich seit Tödt (1959) die Einsicht durch, daß Q einen eigenen kerygmatischen Entwurf voraussetzt, der sich charakteristisch von dem des antiochenisch-paulinischen Traditionsbereichs unterscheidet und den Zugang zu Geschichte und Theologie der frühen palästinischen Jesusbewegung ermöglicht. Dieser christentumsgeschichtliche Quellenwert erklärt das wachsende Interesse an Q in der europäischen und nordamerikanischen Forschung. Wird in ersterer Q vor allem von prophetisch-apokalyptischen Voraussetzungen her gedeutet (Steck, Hoffmann, Sato), betont man in letzterer den weisheitlichen Charakter (Robinson, Kloppenborg) oder postuliert sogar eine Nähe zum Kynismus (Mack, Vaage).
2. Rekonstruktion und Gattung von Q
Die z.T. wörtliche Übereinstimmung der Q-Stoffe bei Mt und Lk macht eine gemeinsame griechische Vorlage wahrscheinlich. Die Unterschiede zwischen beiden sind eher auf die matthäische und lukanische Redaktion als auf zwei verschiedene Q-Rezensionen (Q/Mt, Q/Lk) zurückzuführen. Die Logien waren in Q bereits in Redekompositionen angeordnet. Mt faßte sie in großen Reden thematisch mit weiteren Traditionen zusammen, Lk integrierte sie in Blöcken (zusammen mit Sondergut) dem markinischen Erzählzusammenhang gräzisierte sie aber in Stil und Inhalt. Insofern bewahrte er zwar nicht den Wortlaut, aber die Abfolge und den Umfang der Q-Kompositionen insgesamt besser (Die Zitation erfolgt daher nach Lk mit dem Kürzel Q):
- Gerichtspredigt des Täufers: 3,7-9.16b.17
- Taufe und Versuchung Jesu: 3,21f; 4,1-13
- Jesu erste Rede: 6,20b-23.27-38.41-49
- Der Glaube eines Heiden: 7,1-10
- Täufer und Jesus: 7,18-28; (16,16?); 7,31-35
- Missionsinstruktion: 9,57-60; 10,2-16.21-24
- Gebetsunterweisung: 11,2-4.9-13
- Jesu Dämonenaustreibungen: 11,14-26
- Gegen "dieses Geschlecht": 11,29-35.39-44.46.52.47-51
- Jüngermahnungen: 12,2-12.22-34.39-46.51-59
- Gericht über Israel: 13,18-29.34f; 14,16-24
- Nachfolgeforderungen: 14,26f; 17,33; 14,34f; 15,4-7; 16,13. (16?).17f; 17,1-6
- Eschatologischer Ausblick: 17,23-37; 19,12-26; 22,28.30
Strittig ist, ob die übergreifende Redigierung der Überlieferung durch eine Redaktion (Lührmann, Hoffmann) oder in mehreren Stufen erfolgte (Kloppenborg setzt z.B. eine ältere weisheitliche Redensammlung voraus). Da Q 13,35 Jerusalems Zerstörung anvisiert, ist die Endredaktion um 70 zu datieren. Auch die Mk-Dubletten setzen eine längere (mündliche) Überlieferung voraus. Literarische Beziehungen zwischen Mk und Q sind unwahrscheinlich.
Trotz der Analogien zu antiken Weisheitsschriften läßt sich Q nicht einseitig deren Gattung zuordnen. In Q steht die weisheitliche Mahnung im Dienst prophetisch-apokalyptischer Heils- und Gerichtspredigt (vgl. Sato). Es ist mit einem "wechselnden Sitz im Leben" (Zeller) zu rechnen: Die Tradierung der Q-Stoffe erfolgte wahrscheinlich durch judenchristliche Wanderprediger in Galiläa, die Schlußredaktion setzt das Scheitern ihrer Mission und die Ausbildung einer eigenen Gemeinde (in Syrien?) voraus.
3. Inhalt
In Q ist das Evangelium charismatischer Wanderpropheten erhalten, die in der Erwartung der Wiederkunft Jesu dessen Basileia-Botschaft weiterverkündigten (Q 10; 12,2-12). In der politisch-wirtschaftlichen Notzeit vor dem jüdisch-römischen Krieg steht im Zentrum ihrer Botschaft Jesu Heilszusage an Arme (6,20b; 7,22, vgl. Jes 61,1), mahnen sie zu Feindesliebe und gegenseitiger Hilfe (6,27-36), zu furchtlosem Bekenntnis und Suche der Herrschaft Gottes (12). Nur wer die Worte Jesu "tut", wird im kommenden Gericht bestehen (6,46-49). Ihre Sammlung der "Söhne des Friedens" (10) steht im Gegensatz zur zelotischen Aufstandsbewegung. Die Versuchungsgeschichte läßt die Auseinandersetzung mit dem nationalen Messianismus noch erkennen (4).
Die deuteronomistische Prophetentradition ermöglicht es der Schlußredaktion, die Ablehnung, die Johannes und Jesus, aber auch die Jünger als die prophetischen Boten der Weisheit erfuhren, einem theologischen Deutungszusammenhang zu integrieren. Sie wird an "dieser Generation" im bevorstehenden Gericht geahndet werden (6,22f; 7,31-35; 11,49-51;13,34f). Zentraler christologischer Titel ist der "Menschensohn". Als solcher ist Jesus Gottes Mandatar im Endzeitgeschehen (11,30; 12,40; 17). Jesus wird mit dem Feuertäufer identifiziert, dessen Kommen Johannes als "Wegbereiter" ankündigte (3,16; 7,18-28). Das Bekenntnis zu Jesus entscheidet im Gericht (12,8) und weist die wahren "Kinder der Weisheit" aus (7,34f). Ihnen ist Jesu eschatologische Vollmacht offenbart (Q 10,21f). Mit ihm werden sie dereinst Israel richten (22,28.30).
Rekonstruktionen
A. v. Harnack: Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907; A. Polag: Fragmenta Q, Neukirchen-Vluyn 1979; J.M. Robinson u.a.: <link typo3 crited.htm>Critical Edition and Synopsis of Q, Leuven/Minneapolis, MN 1999.
Literatur
C.H.Weiße: Die evangelische Geschichte, Leipzig 1838; H.J. Holtzmann: Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863; P. Wernle, Die synoptische Frage, Freiburg i.Br. 1899; G.D. Castor: Matthew’s Sayings of Jesus, Chicago 1918; J. Schmid: Matthäus und Lukas, Freiburg i.Br. 1930; T.W. Manson: The Sayings of Jesus, London 1937; H.E. Tödt: Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959; J.M.Robinson: LOGOI SOPHON, in: Zeit und Geschichte. FS R. Bultmann, Tübingen 1964, 77-96; O.H. Steck: Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1967; D. Lührmann: Die Redaktion der Logienquelle, Neukirchen-Vluyn 1969; P. Hoffmann: Studien zur Theologie der Logienquelle, Münster 1972; S. Schulz: Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; M. Devisch: De geschiedenis van de Quelle-hypothese, Diss. masch. Leuven 1975 (Lit.); A. Polag: Die Christologie der Logienquelle, Neukirchen-Vluyn 1977; D. Zeller: Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern, Würzburg 1977; R. Laufen, Die Doppelüberlieferung der Logienquelle und des Markusevangeliums, Bonn 1980; LOGIA, hg. v. J. Delobel, Leuven 1982; D. Zeller: Kommentar zur Logienquelle, Stuttgart 1984; W. Schmithals: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin - New York 1985 (Lit.); J.S. Kloppenborg: The Formation of Q, Philadelphia 1987; M. Sato: Q und Prophetie, Tübingen 1988; J.S. Kloppenborg: Q Parallels, Sonoma, CA 1988; D. Kosch: Die eschatologische Tora des Menschensohnes, Fribourg/Göttingen 1989; D.M. Scholer: Q Bibliography, in: SBL.SP 28 (1989) 23-37 (Supplements: SBL.SP 29 ff.) (Lit.); M.-S. Kim: Die Trägergruppe von Q, Hamburg 1990; H. v. Lips: Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1990; J. Schüling: Studien zum Verhältnis von Logienquelle und Markusevangelium, Würzburg 1991; H.D. Betz: The Sermon on the Mount and Q, in: ders., Synoptische Studien, Tübingen 1992, 249-269; A.D. Jacobson: The First Gospel, Sonoma, CA 1992; D.R. Catchpole: The Quest for Q, Edinburgh 1993; B.L. Mack: The Lost Gospel, San Francisco 1993; The Shape of Q, hg. v. J.S. Kloppenborg, Minneapolis, MN 1994; The Gospel behind the Gospels, hg. v. R.A. Piper, Leiden 1994; P.Hoffmann: Tradition und Situation, Münster 1995; Conflict and Invention, hg. v. J.S. Kloppenborg, Valley Forge, PA 1995; F. Neirynck: Q-Synopsis, Leuven 1995; H.T. Fleddermann: Mark and Q, Leuven 1995; C.M. Tuckett: Q and the History of Early Christianity, Edinburgh 1996; P. Kirsten: Familie, Kreuz und Leben, Marburg 1995; Documenta Q, hg. v. J.M. Robinson u.a., Leuven 1996 ff (Lit.); J. Schröter: Erinnerung an Jesu Worte. Neukirchen-Vluyn 1997.